Es handelt sich hier um eine von Renate Warttmann ins Deutsche übertragene Ausgabe des zuerst 2000 in Paris erschienenen Werkes des bekannten französischen Mediävisten Le Goff, zuletzt Studienleiter an der renommierten "ßcole des hautes études", der dort einen Arbeitskreis zur anthropologischen Erforschung des mittelalterlichen Abendlandes ins Leben rief.
Le Goff ist Historiker und bekennt selbst in seiner Einleitung (S. 7): "Ich bin kein Kunsthistoriker". Dies merkt man seinem Buch an: Die Auswahl der gezeigten Kunstwerke erfolgt doch nach recht subjektiven Kriterien und teilweise ziemlich eklektisch. So springt der Autor in seinen Bildbelegen zu den einzelnen Kapiteln des ßfteren recht willkürlich zwischen verschiedenen Epochen und Regionen und lässt die kunstgeschichtliche Entwicklung weitgehend unberücksichtigt. Wie sich manche Bildmotive im Laufe der Zeit entwickelt haben und welchen Einflüssen sie dabei unterlagen, bleibt in der Regel außen vor, trotz der gegenteiligen Behauptung: "Der Aufbau dieses Buches entspricht einer Klassifikation und einer Epocheneinteilung, wie sie der moderne Mediävist vornimmt" (S. 8). Hierüber könnte man mit Fug und Recht diskutieren ... Eher schon wird man einem anderen seiner einleitenden Sätze zustimmen, nämlich, dass er "diese Bilder unbelastet von Gelehrsamkeit hingestellt hätte", "auf eine ganz subjektive Art" (S. 7).
Dabei strebt Le Goff, wie er in seiner Einleitung vermerkt, eine Konzentration auf das Hochmittelalter vom Ende des 10. bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts an; das Bildmaterial stammt allerdings zu einem nicht unerheblichen Teil sowohl aus dem Früh- wie dem Spätmittelalter und teilweise sogar der italienischen Renaissance. Auch eine weitere Intention Le Goffs ist wohl nur teilweise realisiert: "Im Hinblick auf den Raum wollte ich die gesamte geographische Ausdehnung der mittelalterlichen Gesellschaft und ihrer Kultur, also im wesentlichen den von Christen besiedelten Raum augenfällig machen", darunter auch "Konstantinopel, ebenfalls christliche Metropole, aber für das griechisch-orthodoxe Christentum, am äußersten Rand gelegen, viel umkämpft und attraktiv wie eine Jagdbeute" (S. 10). Doch wird - mit Ausnahme der so genannten "Wiener Genesis", einer griechischen Handschrift vom 3. Viertel des 6. Jahrhunderts, die sich heute in der ßsterreichischen Nationalbibliothek befindet (S. 56) - praktisch kein Werk aus dem byzantinischen Raum berücksichtigt.
Generell lässt sich in geographischer Hinsicht ebenfalls eine gewisse Unsystematik vermerken: Einerseits werden in der Tat oft übersehene Bereiche wie Island, Irland, Skandinavien (Norwegen), die Bretagne, sogar die katalanische oder kroatisch-dalmatische Randregion mit einzelnen Bildbeispielen einbezogen und auch kurz besprochen, andererseits aber selten in einen hinreichenden Gesamtzusammenhang gestellt und überzeugend in die kunstgeschichtliche Entwicklung des Abendlandes eingeordnet. Auch verwundert es, wenn in dem Kapitel zu "Großräumen und Randgebieten der Christenheit im Mittelalter" (S. 10-41) Deutschland, England, Frankreich fehlen ...
Dabei ist der Aufbau des Buches durchaus interessant: "Zeit und Raum", "Der Mensch und Gott", "Tiere", "Körper, Gesten, Gegenstände" und "Feste und Vergnügen" sind die einzelnen Kapitel betitelt, wobei man manche Zuordnungen (etwa "Das Porträt" unter den "Festen und Vergnügen") mit etwas Erstaunen zur Kenntnis nimmt.
Leider sind auch manche kunstgeschichtlichen Fehler zu vermerken; hier sei nur ein, aber recht bezeichnendes Beispiel genannt: Die für Ludwig den Heiligen um 1235 gefertigte so genannte "Kreuzfahrer-" bzw. nach einem späteren Besitzer auch als "Maciejowski-Bibel" bekannte Handschrift war beileibe keine "illuminierte Volksbibel" (S. 144), sondern eine Auftragsarbeit des Königs, so dass sein Porträt auf der Stifterseite nur natürlich ist.
Le Goff ist aber nicht nur kein Kunsthistoriker, sondern auch kein Theologe: Dies mag entschuldigen, wenn doch einige vom theologischen Standpunkt aus recht eigenwillige Formulierungen an verschiedenen Stellen auftauchen. So wenn er behauptet: "Die Jungfrau Maria genoss in Byzanz und im griechisch-orthodoxen Christentum schon früh große Verehrung; in der abendländisch-lateinischen Christenheit setzte sich ihr Bild nur zögerlich und erst zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert durch, aber schließlich stieg die Mutter Gottes dort zur vierten göttlichen Person und Ergänzung der Heiligen Dreieinigkeit auf" (S. 56; ähnlich auch S. 78: "Ich glaube eher, dass Maria ... eine Art vierte göttliche Person wurde").
So wird man alles in allem das loben, was an diesem Buch wirklich zu loben ist, nämlich die Fülle schöner und (von ganz wenigen Ausnahmen wie S. 38 f. abgesehen) auch in ausgezeichneter Bildqualität reproduzierten Abbildungen. Sie versöhnen mit manchen Schwächen im Text und machen die Anschaffung des Werkes für jeden an der - abendländischen! - mittelalterlichen Kunst in vielen ihrer Facetten interessierten durchaus lohnend.