Das Barbarische als Element der Gestaltung für die Zeit vom 5.-8. Jahrhundert, als Motivation für die Denkweise einer ganzen Epoche? Zunächst erscheint das widersinnig, da dem Begriff "barbarisch" ja nur das rohe, verderbliche anhaftet, daß zum Untergang ganzer Kulturen geführt hat. Georg Scheibelreiter ist da anderer Ansicht. Für ihn fehlt das barbarische Element keiner Kultur und kann, wenn überhaupt, nur durch Zivilisationsideologien verdrängt werden. Der Autor wehrt sich allgemein gegen den unscharfen, ja banalen Gebrauch des Ausdrucks barbarisch, den vor allem die Humanisten mit einer negativen Wertung versehen hätten.
Besonders im 6. und 7. Jahrhundert durchdrang die barbarische Sichtweise als Ausdruck einer bestimmten Lebensanschauung das lateinischen Europa, das bisher eher dem Vorbild des mediterranen Modells gefolgt war. Diese Veränderung wirkte sich sowohl auf den Staat, das Steuer-, Rechts- und Bildungswesen, wie auch auf jeden einzelnen aus. Das Gefühl dauernder existenzieller Gefährdung führte zu einem skrupellosen Drang nach Durchsetzung, dem alles andere untergeordnet zu sein schien. Hier zeigt sich der größte Gegensatz zu den Forderungen der christlichen Ethik, die den Menschen noch nicht wirklich erreicht oder aber in seelische Konflikte stürzte. Doch auch das Christentum hatte eine Veränderung durchgemacht und wurde nun zunehmend materiell verstanden. All diese Denkweisen konnten mit religiös-moralischen Geboten nur selten in Einklang gebracht werden und führten schließlich zu einer zunehmend kriegerischen Haltung aller Schichten der Bevölkerung. Bedingt durch solche Faktoren mußte die römische Zivilisation untergehen.
Ausgehend von dieser provokanten These durchleuchtet Scheibelreiter die Quellen des 5.-8. Jahrhunderts und zeigt so die Mentalitätsgeschichte des Frühe Mittelalters unter völlig neuen Gesichtspunkten. Er verzichtet dabei bewußt auf eine modern-rationalistische Sichtweise auf diese Epoche und schafft es so, ihre Eigenarten besonders herauszuheben.
Scheibelreiters Werk ist sicher keine leichte Lektüre, schon wegen der Komplexität der Gedankengänge und des Umfangs an Information nicht. Eine bestimmtes Maß an Grundkenntnissen ist zur unbedingt erforderlich, da man sonst die vielen Beispiele, mit denen Scheibelreiter seine Thesen ausführlich verdeutlicht, nicht immer versteht. Der Band ist zudem nach Sachthemen gegliedert und enthält keinerlei chronologische Hilfestellung oder einen Glossar. Dennoch ist das Werk nicht nur für ein wissenschaftliches Publikum interessant. Es liefert vielmehr eine ganz neue, einzigartige Sichtweise auf eine auch heute noch wenig bekannte Epoche, die zudem sachlich und wissenschaftlich fundiert vorgetragen wird.