Wer sich auf eine monatelange Reise einrichtet, Tag für Tag über kaum kenntliche, geschweige denn markierte Wege zieht, durch Wälder, über Bäche und reißende Ströme, auf schmalen, oft von Geröll oder Lawinen verschütteten Wegen, von Menschen, Tieren und Elementen bedroht, ohne Aussicht auf einen gedeckten Tisch und ein warmes Bett am Abend, hat im allgemeinen keinen Blick für die Schönheiten der Natur, erfährt sie vielmehr als Feindin: Kälte und Hitze, Hochwasser, Nebel und Schneesturm, Dürre und Krankheit, Sturm und Flaute auf dem Meer bedrohen ihn. Wenn er überleben will, muß er ein Gespür für Gefahren entwickeln; geschickt muß er bösartigen Menschen und der feindlichen Natur ausweichen - oder trotzen. Das Gefühl der Bedrohung spiegelt sich auch in Erzählungen, die beiläufig Seesturm und Schiffbruch bildlich verwenden, in Legenden und Märchen, wenn sie gefürchtete Tiere wie Wolf, Bär oder Löwe ausnahmsweise, z. B. in der Legende des heiligen Hieronymus, als Helfer oder Vertrauten des Menschen auftreten lassen.
Die Menschen des Mittelalters waren meist zu Fuß unterwegs, relativ wenige konnten sich ein Reittier leisten; gedeckte Reisewagen, wie man sie in der Antike gekannt hatte, hielten sich allenfalls in Byzanz; im Spätmittelalter wurden sie auch in Europa wieder gebräuchlich, zunächst nur für Frauen, Alte, Kranke - und Verbrecher.
Bedeutsamer als Gefahren der Natur, denen man sich ja auch zu Hause ausgesetzt sah, war das Urerlebnis der Fremde. Schlagartig erfuhr der Reisende, daß er nicht mehr zu den "wir", sondern zu den "anderen" gehörte und als solcher möglicher weise weder ein Recht auf Leben noch auf Unversehrtheit oder Hilfe in der Not hatte. Gerade deshalb suchte er unterwegs Genossen, die dieselbe Sprache sprachen wie er, oder er übernachtete bei Wirten, die aus seiner Heimat in den fremden Ort zugewandert waren.
Da der einzelne den natürlichen und den von Menschen ausgehenden Gefahren weitgehend schutzlos ausgesetzt war, schloß er sich mit anderen zu Gruppen zusammen. Auch Räuber oder Piraten jedoch gingen Bündnisse ein und konnten so den Widerstand der Angegriffenen brechen und bequem Beute machen. Kaufleute und Wallfahrer bildeten zeitlich begrenzte Eidgenossenschaften oder Hanse, um den von Wegelagerern und Zöllnern, Wirten und Fährleuten ausgehenden Gefahren gewachsen zu sein.
Doch was bewog die Menschen des Mittelalters dennoch, alle Mühen auf sich zu nehmen? Vom Auswanderer über den Flüchtling zum Pilger - Norbert Ohler verdeutlicht in seinem Buch anschaulich die verschiedenen Motive und Arten des Reisens im Mittelalter und hat damit ein interessantes Buch geschrieben, das sich aber vor allem an Laien wendet. Dennoch sehr empfehlenswert.