Wie viel Zeit steckt im Kleid
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Eintrag #1 vom 18. Mai. 2013 16:36 Uhr
Jan Keupp
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Als Schreibtischtäter in Sachen „Textiles Handwerk“ möchte ich mir für eine Fachpublikation gerne Rat von praktizierenden Experten holen. Es geht um eine simpel klingende Frage von erheblicher Komplexität: Wie viel Arbeitsstunden stecken in einem mittelalterlichen Kleid?
Natürlich kann es darauf keine pauschale Antwort geben. Welcher Rohstoff, welche Qualität, welcher Schnitt/Stoffmenge, wie gefärbt, mit welchen Hilfsmitteln etc.? Die Fülle der Parameter ist kaum zu überblicken. Dennoch geht es um einen groben Schätzwert für die textile Grundausstattung einer Person in einfacher Ausführung.
Die Fachliteratur erweist sich hier als wenig hilfreich. Natürlich könnte ich etwa auf die Ergebnisse von Eva B. Anderson zurückgreifen (Textile tools and poduction during the Viking Age, 2007), die auf experimentellem Weg zu folgendem Ergebnis gelangt ist: Für zwei Kleidergarnituren werden von der Rohwolle bis zum fertigen Gewandstück bei einem auf 12 Stunden angesetzten Arbeitstag 165,5 Tage in feiner oder 97,5 Tage in gröberer Qualität benötigt. Dieser Befund scheint mir allerdings nicht unbedingt belastbar: Zunächst wirkt die Aufgabenfülle frühmittelalterlicher Bäuerinnen zu groß, als dass derart viel Zeit in die Textilproduktion von nur zwei Kleiderensembles investiert werden könnten (wo bleiben Vieh und Kinder, Landwirtschaft, Gartenbau, Kochen, Backen etc.). Zum anderen sind etliche Werte recht gering angesetzt. So geht die Autorin etwa beim Spinnen von einer Produktionsmenge von 40m Garn/Stunde mit einer 8g schweren Spindel aus. Der Blick etwa in Textilhandbücher des 18./frühen 19. Jahrhunderts weist für die (zumeist schwerere) Handspindel einen deutlich höheren Ausstoß von qualitätsabhängig 120-180m/Stunde aus. Eine solche Differenz lässt sich kaum auf einen Mittelwert reduzieren.
Alle Arbeitsschritte lassen sich auf Basis vornehmlich frühneuzeitlicher Quellen einzeln in Richtwerten berechnen und addieren. Gerade eine solche Herangehensweise vom Schreibtisch des Akademikers aus produziert womöglich unverhältnismäßig viele Fehler. Daher würde ich mich über Erfahrungen und Hinweise aus den Reihen derer freuen, die mit der Materie wirklich handfeste Erfahrung haben.
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Eintrag #2 vom 21. Mai. 2013 10:42 Uhr
Carola
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Das Museumsdorf Düppel ( wwwdueppel.de) hat schon vor einigen Jahren solche Berechnungen für ein hochmittelalterliches Leinenkleid angestellt.
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Eintrag #3 vom 21. Mai. 2013 13:21 Uhr
Jan Keupp
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Herzlichen Dank für den Hinweis! Düppel ist natürlich eine der allerersten Adressen für derartige Fragen. Ich habe den Tipp gerne aufgegriffen und dort eine entsprechende Anfrage gestellt.
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Eintrag #4 vom 23. Mai. 2013 20:23 Uhr
Beate
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Im Ribe Vikingecneter wurde ebenfalls ein Projekt zur Textilverarbeitung durchgeführt, dazu gibt es ein PDF, in deme auch etwas zum Zeitaufwand steht:
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Eintrag #5 vom 23. Mai. 2013 22:02 Uhr
Jan Keupp
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Wer spinnt hier, und wenn ja, wie schnell?
Eine ausgezeichnet dokumentierte Studie, ganz herzlichen Dank. Hier wird das Viborg Hemd rekonstruiert und dazu ein Zeitaufwand von der Flachsernte bis zum fertigen Kleidungsstück von 350 Arbeitstunden angesetzt. Die Werte liegen tätsächlich in einiger Nähe zum Woll-Experiment von Anderson, am dänischen Centre for Textile Research, die für die gröbere Ausführung rund 500 Stunden ansetzt.
Allerdings zeigt sich auch hier wieder die Problematik der Zahlen. Am CTR hat man auch ein Leinen-Experiment durchgeführt und dabei eine Garn-Produktion von 24 bis 33 m/Stunde erzielt. Am Ribe Viking Centre brachte man es mit 58 m/Stunde auf fast den doppelten Wert, wobei das Spinnen mehr als die Hälfte der Gesamtarbeitszeit ausmachte. Betrachte ich nun die umfangreichen Quellen zur Leinenspinnerei im 18. Jahrhundert, so traute man dort einer ländlichen Leinenspinnerin, ja selbst wenig motivierten Zuchthäuslerinnen, mit der Handspindel je nach Garnqualität eine Geschwindigkeit von 150-250 m/Stunde zu. Hier stößt die experimentelle Archäologie womöglich an ihre Grenzen. Ich gehe jedenfalls nicht davon aus, dass sich die Handspindel-Technologie wesentlich revolutioniert hat. Übrigens scheint auch das Hecheln im 19. Jahrhundert deutlich rascher von der Hand gegangen zu sein.
Vielleicht gibt es hier im Forum zum Thema "Meter Garn pro Stunde" einschlägige Erfahrungswerte. Soweit ich das sehe, steht und fällt die Frage des Zeitaufwands mit diesen zentralen Arbeitsschritt.
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Eintrag #6 vom 27. Mai. 2013 12:32 Uhr
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Ich hab vor kurzem grad ein Gespräch mitbekommen, bei dem eine Hobbyistin davon sprach, über 100 Meter feine Wolle die Stunde zu schaffen. Verglichen mit Spinnerinnen, die ich kenne, scheint mir unter 100 für eine - aus damaliger Sicht - mittel geübte Person doch sehr niedrig gegriffen zu sein. Wirklich geübte Spinnerinnen dürften deutlich höhere Werte erreichen. Außer acht gelassen wohlgemerkt, daß Leinen und Wolle unterschiedlich gut zu verarbeiten sind.
Was man auch nicht vergessen darf ist, daß Spinnen wie viele andere Handarbeiten für geübte Personen nicht unbedingt eine Hauptbeschäftigung sein muß. Gerade zum Spinnen gibt es sogar noch Videos aus sehr ländlichen Regionen, wo das nebenher beim Hüten von Tieren, oder auch plaudernd mit anderen auf dem Marktplatz passiert. Das Spinnen hat hier noch den Vorteil vor manch anderen Handarbeiten, daß es keinen Abfall (wie etwa das Schnitzen) erzeugt, keine Lärm macht und mit wenig Equipment auskommt.
Soll heißen, auch wenn "damals" etliche Stunden in das Spinnen des Garns eines Kleides flossen, waren dies (im Vergleich z.B. zum nächsten Arbeitsschritt, dem Weben) nicht unbedingt volle Arbeitsstunden, da parallele Tätigkeiten eher die Regel darstellen dürften.
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Eintrag #7 vom 25. Mai. 2013 18:18 Uhr
Jan Keupp
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Jede Zeitschätzung vom grünen Tisch ist tatsächlich "realitätsfern". Setzt man Arbeitstage zu 12 Stunden an, bleiben die jahreszeitlich schwankenden Licht- und Witterungsverhältnisse unberücksichtigt. Die Handspindel ist tatsächlich ein sehr mobiles und kommunikatives Arbeitsgerät. Fraglos multitasking-fähig!
Aus Sicht des Historikers wird es spannend, wenn man sich die Frage stellt, wie der zunehmende Gebrauch des Spinnrads (zunächst nur für bestimmte Garnarten) den Alltag der Menschen beeinflusste. Der Horizont der Hausfrau dürfte jedenfalls geschrumpft sein. Aber dies ist wieder eine akademische These, die mit ausreichendem Belegmaterial unterfüttert werden müsste…
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Eintrag #8 vom 27. Mai. 2013 11:29 Uhr
Jens
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Katrin Kania hat meines Wissens diesbezüglich mal Untersuchungen angestellt, und auch Vorträge gehalten. Allerdings sehe ich verallgemeinernde Aussagen diesbezüglich auch als extrem schwierig an. Dazu spielen da zu viele Faktoren sein. Abgesehen davon ist das eine Arbeitskette, wurde ja nicht in Personalunion gemacht, man müsste Transportzeiten berücksichtigen etc. etc….
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Eintrag #9 vom 27. Mai. 2013 13:01 Uhr
Ameli
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Hallo Jan,
interessante Fragestellung. Mir sind noch ein paar andere, allgemeinere Dinge eingefallen, die Du in Deiner Facharbeit berücksichtigen könntest:
- Arbeitsteilung
je nach von Dir betrachtetem Zeitraum/Ort ist noch die Frage der Arbeitsteilung bzw. der Spezialisierung zu stellen. Wie Du schon geschrieben hast, sieht es in einer kleinbäuerlichen Wirtschaft anders aus als z.B. auf einem größeren Anwesen, das Spezialisierung wie z.B. Weber/in zuläßt.
Eine Spezialistin arbeitet ganz anders als eine Generalistin, die sich den Arbeitstag anders einteilen muß und weniger Zeit für die einzelnen Aktivitäten hat
- Weberei/Zuschnitt
Was wir auch nicht vergessen dürfen, ist daß Stoffbahnen in früheren Zeiten eher schmaler als die heutige Standardware mit 150 cm Breite waren. Also war auch der Zuschnitt anders: weniger Schnittkanten, mehr Webkanten, weniger Säumarbeit, weniger Zeitaufwand…
- Spinnstuben
Wenn ich so an die Erzählungen meiner Großmutter zurückdenke, kannte sie noch die Odenwälder Spinnstuben, in denen man sich abends zum Handarbeiten traf. Und ja, da war Spinnen/Nähen/Schnitzen nebensächlich, Hauptsache waren Klatsch und Tratsch! Multitasking auf Landfrauenart ;-) Ohne isolierenden Fernseher oder Internet ;-)
- Material
Wurde teilweise schon angesprochen: Leinen braucht andere Arbeitsschritte und -techniken als Wolle. In der aktuellen "Archäologie in Deutschland" ist ein kurzer Artikel über Flachsanbau und die Verarbeitungsstufen drin. Der könnte Dir bei der Abgrenzung Deiner Facharbeit auch helfen.
Gruß
Ameli
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Eintrag #10 vom 27. Mai. 2013 16:03 Uhr
Jan Keupp
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Ich teile alle Einwände bezüglich der Vielfalt der Faktoren. Multitasking ist das eine, funktionale Differenzierung/Arbeitsteilung mit einem Effektivitätsvorsprung und den damit verbundenen Transferkosten das andere. Es ist anzunehmen, dass es erhebliche Unterschiede zwischen Heimwerk und professionellem Handwerk gab. Auch zwischen Wolle und Leinen ist im Prozess unbedingt zu unterscheiden, obwohl sich die Fertigungszeiten in der Gesamtbilanz offenbar erstaunlich aneinander annähern.
Zu meinem Unglück bin ich an die Maxime gebunden, die Goethe für meine Zunft formuliert hat: "Die Pflicht des Historikers ist zwiefach: erst gegen sich selbst, dann gegen den Leser. Bei sich selbst muss er genau prüfen, was wohl geschehen sein könnte, und um des Lesers willen muß er festsetzen, was geschehen sei." Anders gesagt: Ich muss angesichts einer streng vorgegebenen Zeichenzahl des Herausgebers zwangsweise Komplexität reduzieren. In diesem Fall soweit, dass am Ende eine Beispielzahl und wenige erläuternde Sätze stehen. Das bedeutet aber nicht, dass hinter den dürren Angaben keine ausreichende Recherche steht. Gerade deshalb bin ich für alle Hinweise (Düppel, Ribe VikingeCenter, Karin Kania) und natürlich auch für eigene praktische Erfahrungswerte sehr dankbar. Das gilt übrigens auch für das Nähen bzw. Säumen, dessen Zeitaufwand ich nur erahnen kann. Jeder Hinweis ist hier willkommen.
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Eintrag #11 vom 27. Mai. 2013 18:18 Uhr
Jens
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Hallo Jan,
Ja nun, aber was nutzt die Zahl, wenn sie halt am Ende falsch ist bzw. ein falsches Bild, weil zu oberflächliches, erzeugt? Meines Erachtens nach kann man diese Zahl heute nicht mehr nennen, Punktum. Jede moderne Annäherung ist zwar für das persönliche Gefühl des Nachvollziehenden interessant, kann aber keine wirklich aussagekräftigen und belastbaren Zahlen liefern. Wir haben inzwischen über 3 Zeitfenster schon wirklich viel Kleidung genäht- das dürfte sich den 200 Stücken annähern- davon locker 20-30 Kleider- aber die variieren extrem. Da braucht nur schonmal der Stoff sich gerne mehr aufribbeln, schon muss man beim Nähen mehr aufpassen, und in jedem Fall versäubern. Oder er dehnt sich arg, dann ist der Zuschnitt schwieriger.. Und überhaupt: "mittelalterlich"? Für ein einfaches Schlupfkleid um 1200-1300 brauche ich im Zuschnitt viel weniger Zeit, als bei einem körperbetonten des frühen 14ten, als bei nem körperformenden ab der 2. Hälfte. Je nachdem ob und wie verschlossen fallen Knöpfe oder Nestellöcher an- die wiederrum ja auch Garn benötigen (Und Stoff). Dann: wie will man rechnen? Die Arbeitszeiten aller beteiligten Handwerker in der Produktionskette vom Schaf an bis zum fertigen Kleid? Oder den theoretischen, wenn eine Person alles selber gemacht hätte- was kaum je im Mittelalter der Fall gewesen sein dürfte. Letzteres hast du ja schon wenig belastbar genannt. Wenn ersteres, fällt man gleich da wieder auf die Nase, weil gerade im späten Mittelalter im städtischen Umfeld ja schließlich das Garn von zig Personen unterschiedlicher Professionalität versponnen wurde. Und selbst wenn ich dir nun sage, dass wir auch schon an einem Wochenende ein Kleid vom Stoff bis fertig (Planung, Zuschnitt, Anpassen, Nähen) hergestellt haben? Ohne Daten wie alleine das verwendete Garn nutzt dir das nix. Dann erzählt dir dienächste, dass sie soundsoviel Hundert m. Garn pro Stunde verspinnt- ja und was bringt das dann, wenn der Garn ein ganz anderer ist?
Ich würde empfehlen, schlicht die Fülle der Arbeitsschritte zu nennen, damit der Leser ein Gefühl für den Arbeitsumfang bekommt. Zahlen wären schlicht allesamt aus der Luft gegriffen und somit Betrug am Betrachter.
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Eintrag #12 vom 27. Mai. 2013 20:18 Uhr
Jan Keupp
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Lieber Jens,
Deine Empfehlung ist insoweit wirklich weise, weil man manchmal das eigene Nichtwissen einräumen und nur das tatsächlich Belastbare vermitteln muss. Die einzelnen Arbeitsschritte kommen auf jeden Fall in den Text, und sei es nur als sprachliche Chiffre für "ungemein komplex". Man könnte es tatsächlich dabei belassen und wäre auf der sicheren Seite.
Dennoch wehre ich mich dagegen, mit dem reinen Argument der Komplexität auf historische Aussagen gänzlich zu verzichten. Letztlich wäre dann am Ende gar keine Aussage über das Mittelalter (als Gesamtepoche oder auf einen Teilausschnitt bezogen) mehr möglich. Die gelebte Realität einer Zeit ist immer vielfältiger, als es sich mit dem beschränkten menschlichen Verstand erfassen oder gar in Textform formulieren lässt. Modellbildung ist daher nicht nur legitimes Mittel zum Zweck, sondern sogar heuristisch unumgängliche Pflicht.
Kurz kann ich mein Vorgehen und meine Ausgangsfrage methodisch erläutert: Ich rezipiere zunächst die Experimente von Eva Anderson/CTR als Modell. In einem nächsten Schritt hinterfrage ich die Prämissen und Ergebnisse dieses Experimentes, indem ich z.B. die Frage der Spinngeschwindigkeit zur Disposition stelle. Ich hole mir dafür u.a. hier im Forum Rat von Leuten, die über eigene empirische Erfahrung verfügen und sichte zudem vormoderne Daten zur Textilwirtschaft. Anschließend muss ich entscheiden, ob ich Andersons Modell an meine Leser weitervermittle, modifizierte Ergebnisse präsentiere oder tatsächlich doch Deinem Ratschlag folgen muss. Im Moment erscheint es mir die Anstrengung wert, ein wenig tiefer in die Materie einzusteigen. Mindestens ich selbst lerne ungemein viel dabei.
Natürlich benötige ich ein konkretes Referenzobjekt. Auf keinen Fall darf am Ende die pauschale Aussage stehen: "Im Mittelalter an sich benötigte man für ein Gewand 1000 Stunden". In Andersons Fall ist dies ein nach Hedeby-Funden rekonstruierte mehrteiliges Ensemble, über dessen Webart, Fadendichte, Gewicht etc. ich gut informiert werde. Beate Steins Hinweis bezieht sich auf eine Rekonstruktion des Viborg Hemds. Erfahrungen mit anderen Kleidungsstücken aus ganz unterschiedlichen Kontexten können helfen, die Validität der Experimentaldaten zu überprüfen. Genauso wie Aussagen: Ich spinne soundsoviel Meter Garn in dieser und jener Qualität in folgender Zeit. Seitens der "Handspinngilde e.V." habe ich hier z.B. sehr dankbar folgende hilfreiche Tabelle erhalten: spinn.de/statistik.html. Oder auch Feststellungen wie: Die Näharbeiten für dieses oder jenes Gewand kosteten mich so und so viele Stunden. Du und viele andere hier im Forum besitzt hier mir gegenüber einen deutlichen Wissensvorsprung, an dem ich gerne teilhaben möchte.
Beste Grüße
Jan Keupp
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Eintrag #13 vom 28. Mai. 2013 11:53 Uhr
Jens
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Jan, ich verstehe es nicht. Bis dato finde ich in diesem Thread keinerlei Einschränkung hinsichtlich der angestrebten Aussage (bzw. schon wenig hinsichtlich dessen, in welchen Umfeld die Aussage getätigt werden soll. Du sagst zwar, dass keine pauschale Aussage wie "Im Mittelalter an sich benötigte man für ein Gewand 1000 Stunden" herauskommen soll, aber was soll dann rauskommen? (Ein Buch über Textilien im Mittelalter? Worum geht es?).
Würde man jetzt mal schlicht sagen "wir begrenzen es mal auf den und den Zeitrahmen" (wie viel Arbeitsaufwand steckte in einem einfachen, mä0g körperbetonten Kleid einer Frau zwischen 1450 und 1500) wäre das wenigstens ein Ansatz. Aber "fürs Mittelalter"? Die Aussagekraft eines frühmittelalterlichen Hemdes ist doch in Verbindung mit der frühen Neuzeit schlichtweg völlig irrelevant. Ob man das nun methodisch vertreten kann, oder nicht, am Ende schwimmt man dann dennoch, wenn man die Werte irgendwie in Bezug bringen will. Was ist denn das Ziel, bloße Erfüllung der Methodik, oder auch der Versuch, mal eine greifbare, halbwegs belastbare Aussage zu bekommen? Und wenn ja, und keine wie beschrieben pauschale, welche dann? Oder aber- deine Aussagen hinsichtlich der Begrenzung der Länge des Textes sprachen für mich dagegen- viele Daten zu sammeln, um den Leser(?) selber sich ein Bild machen zu lassen-auch auf Gefahr hin, dass dieses, ob Unwissenheit in der Materie, wiederum falsch wird? Oder nur für sich selber zu sammeln, aber mit welchen Ziel?
Ich stimme auch nicht mir dir überein, dass dann "garkeine Aussage fürs Mittelalter mehr möglich wäre". Insofern als wenn man wirklich über "das Mittelalter" spräche, wäre dem richtig, analog auch meine Kritik hier. Aber für begrenzte Zeitrahmen und Fragestellungen geht es eben schon. Nur macht es halt einen Unterschied, ob ich mit einem so extrem weiten Feld, für das eben keine zeitgenössischen Zahlen existieren, arbeite, oder mit etwas, wie beispielsweise der Kaufkraft einer Person in einer Stadt zu einem best. Zeitpunkt- da gibt es dann halt welche.
Ich würde dir gerne helfen, weil Textil eben unser Thema ist, aber ich traue mir nicht, irgendwelche Schätzzahlen zu liefern, weil ich einfach den Kontext nicht verstehe.
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Eintrag #14 vom 28. Mai. 2013 13:00 Uhr
Ameli
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Hallo Jens,
vielleicht erklärt es sich durch die Vorgaben, die die Unis und Hochschulen mittlerweile zu Facharbeiten, Assignments und Dissertationen machen.
Konkreter Fall: Assignment zu einer recht allgemein gehaltenen Aufgabenstellung, max. 10-12 Seiten Text, min 6-8 Quellen angeben (z.B. bei AKAD).
Was die Dozenten sehen wollen, ist wie man an das Thema rangeht und vor allem was man warum NICHT betrachtet (und damit zeigt, daß man eben doch alles rundherum gelesen, recherchiert, bewertet hat):
- den allgemeinen Rahmen umreißen (Einleitung)
- Eingrenzungen setzen und begründen (wie Jan schon schrieb, das MA sind schlappe 1000 Jahre, deshalb Eingrenzung auf Zeit/Region/evtl. gesellschaftliche Schicht)
- im Rahmen der jetzt eingegrenzten Fragestellung schreiben (Hauptteil)
- Schlußfolgerung
- Zusammenfassung
Und das ganze nach dem Motto "in der Kürze liegt die Würze". DAS bringt einen zur Verzweiflung! Lange Texte mit vielen Erklärungen und Querverweisen auf Ausnahmen oder gleichgelagerte Fälle sind einfach ;-)
Hoffe, das bringt Licht ins Dunkel.
Gruß
Ameli
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Eintrag #15 vom 28. Mai. 2013 14:17 Uhr
Jan Keupp
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Lieber Jens,
wie gesagt geht es um einen kurzen Fachartikel. Er wird in einem populären Geschichtsmagazin erscheinen. Die Aussage, die angestrebt wird, ist schlicht eine exemplarische. Sie könnte etwa lauten: "Nach Experimentaldaten des schwedischen CTR mussten für die Herstellung der kompletten Kleidergarnitur einer Frau im skandinavischen Raum des 10. Jahrhunderts rund 1000 Arbeitsstunden aufgewandt werden". Ziel ist es, an solch einem Beispiel den grundlegenden Unterschied zwischen unserer modernen Lebenswelt (Kleidung gibt es günstig beim Textildiscount) und der Sphäre vormoderner Textilherstellung (hunderte von Arbeitsstunden) zu verdeutlichen. Beim Leser lässt sich so hoffentlich ein Aha-Erlebnis hervorrufen, das im besten Fall zur eigenständigen Reflexion anregt. Im weiteren Textverlauf müssen dann die sozialen und technologischen Strukturveränderungen eingegangen werden, die die Rahmenbedingungen der Textilerzeugung im Epochenverlauf veränderten.
Soweit, so einfach. In dem Moment, in dem mir Zweifel an der Stimmigkeit der Angaben des CTR kommen, wäre es tatsächlich "Betrug" am Leser, die Daten einfach ungeprüft zu übernehmen. Daher habe ich eine ganze Reihe von Anfragen an verschiedene Einrichtungen und Experten gestartet. Dazu gehörte das "Experiment", nach langer Zeit wieder einmal hier im Forum nachzufragen. Ich konnte kaum davon ausgehen, hier jemanden anzutreffen, der zufällig exakt die dänischen Versuchsanordnung nachvollzogen hat. Aber meine Hoffnung war und ist es, dass Erfahrungswerte vorliegen, die dabei helfen können, die Experimentaldaten zu verifizieren oder zu relativieren. Das geht oft nur über Analogieschlüsse und am Ende steht die Entscheidung, wie tragfähig das Ergebnis ist.
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Eintrag #16 vom 28. Mai. 2013 16:19 Uhr
Jens
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Hallo Jan,
Ein "populäres Geschichtsmagazin"? Dann verstehe ich das gerade so überhaupt nicht. Die Leser werden prompt von allzu verbindlichen Angaben in die Irre geführt, und ein Auflisten der notwendigen Arbeitsschritte würde den Unterschied zu heute recht deutlich machen. Sogar insofern mehr, wenn man den Unterschied in der Beschaffung anreist, weil man bis 1500 nicht unbedingt in den Laden gehen konnte, um ein Kleid von der Stange zu kaufen. Da fände ich die Konzentration auf einen frühen Zeitrahmen sogar eher verwirrender, weil für urbanere Settings dann schon nicht mehr beispielhaft.
Übrigens ist der Vergleich "hunderte Arbeitsstunden" versus "billig im Discounter" auch nicht gerade treffennd, schließlich stecken in einer Discounterhose auch etliche Arbeitsstunden, bis vom Strauch (Baumwolle) eine Hose im Laden wird. Der wesentliche Punkt wäre da wohl eher der Anteil des Wertes an dem gesamten zur Verfügbaren Material/Zeit/Resourcen.
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Eintrag #17 vom 28. Mai. 2013 20:10 Uhr
Jan Keupp
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Selten habe ich den Rückgriff auf ein konkretes Beispiel so grundlegend rechtfertigen müssen ;o) Ich würde so argumentieren: Wenn ich etwa schreibe: „die Wolle musste aufwändig zu Garn versponnen werden“ – was stellt sich der unbeschlagene Leser wohl darunter vor? Vier Stunden Arbeit? 40? 400? Da hilft ein konkretes Beispiel doch ein gutes Stück weiter, oder? Zumal heute kaum mehr jemand realisiert, in welchem Maße die industrielle Revolution diesen Bereich beeinflusst hat. Ein Beispiel: „Eine Spinning Jenny [patentiert 1764] mit 60 Spindeln konnte etwa 25 Handspinner ersetzen, eine Mule Jenny mit 14 Spindeln etwa 175 Handspinner, und ein Selfactor, Baujahr 1880, konnte die Leistung der Mule Jenny nochmals verfünffachen.“ (nach: Meisterwerke aus dem Deutschen Museum IV). Insofern ist die Discounthose in ihrer Herstellung eben nicht mit der mittelalterlichen Textilarbeit zu vergleichen.
Ich bin in diesem Fall ein bekennender Freund davon, die Vergangenheit durch konkrete Beispiele „dingfest“ zu machen. Für mich ist die experimentelle Archäologie daher auch keine Spielerei, sondern ein erstzunehmender wissenschaftlicher Zugang zur Vergangenheit. Und ebenso glaube ich, als Historiker vom dem Bereich Geschichtsdarstellung/Reenactment Vieles lernen zu können. Denn den Denk- und Handlungshorizont der Menschen vergangener Zeiten mag man weitaus besser beurteilen, wenn man einen Eindruck davon gewinnt, welche Ressourcen ihnen zur Verfügung standen (wie Jens richtig bemerkt z.B. Material, Zeit, Technologie). Es ist bedauerlich, dass sich an dieser Schnittstelle in Deutschland so wenig tut. Skandinavien und Großbritannien sind hier sehr viel weiter, während bei uns Universität und „Szene“ scheinbar in zwei hermetisch getrennten Sphären existieren. Aber das wäre ein Thema für einen anderen Threat…
An dieser Stelle ging es mir um eine ganz konkrete Angelegenheit: Eure Erfahrungen bei der Textilherstellung! Ich würde mich freuen, wenn wir hier in der Sache weiterkommen könnten.
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Eintrag #18 vom 29. Mai. 2013 09:42 Uhr
Andrej Pfeiffer-Perkuhn
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Ich verstehe nicht recht, worum hier gestritten wird. Wenn man so einen Artikel wissenschaftlich korrekt angeht, sehe ich da keine Probleme. Die Arbeitsschritte so einer Kleiderherstellung liegen im Prinziep vor. Diese mit Daten aus Experimenten zu unterfüttern ist durchaus möglich, wenn diese eben fachlich einwandfrei durchgeführt wurden.
Das Problem hierbei dürfte hier halt sein verläßliche Zahlen zu bekommen. Ich erinnere mich an einen Thread hier in dem diskutiert wurde wie lange man braucht um einen Löffel zu schnitzen. Timm Esemann hat dann das Videao eines schwedischen Löffelschnutzers vom Anfang des 20. Jahrhunderts gepostet der selbst die kühnsten Zahlen weit unterboten hat.
Wenn man daher keine wirklich verläßlichen Zahlen findet, kann man immer noch versuchen sich anzunähern, muss das dann aber auch so kommunizieren. Quellenkritisch eben, womit wir wieder beim wissenschaftlich korrekt wären.
Generell finde ich diese Aufstellung sehr spannend, sehe aber das Problem, das solche Zahlen nur für ganz bestimmte Zeitpunkte und Umstände gelten können. In meiner Darstellungszeit, dem späten 15. Jahrhundert ist die Garnherstellung schon umfassend vom Verlagswesen geprägt, Weberei und Veredelung schon protoindustriell ausgeprägt. Damit hat man es dann mit komplexen Wirtschaftskreisläufen und Transportfragen zu tun, die zum einen solche Berechnungen enorm verkomplizieren, zum anderen aber auch Zeit ersparen. Hier würde ich persönlich so einer exemplarischen Rechnung auch Preise für Kleidungsstücken im Verhältnis zum Arbeitslohn gegenüberstellen.
Schöne Grüße
Andrej
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Eintrag #19 vom 29. Mai. 2013 12:44 Uhr
Jan Keupp
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Die Zunahme der Parameter würde eine Berechnung für den städtischen Kontext des 15. Jahrhunderts tatsächlich enorm erschweren. Besser sieht es erst wieder im 18. Jahrhundert aus (Beispielstudien zu Laichingen/Unterfinning), das ökonomische Rationalitätsstreben der Aufklärung produziert entsprechende Schriftlichkeit.
Ich habe deshalb bewusst ein Beispiel aus dem Bereich der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft des früheren Mittelalters gewählt, wo der Arbeitsprozess im Idealfall in einer Hand liegen kann. Der Vorschlag, Preisrelationen als Vergleichsmaßstab zu verwenden, bringt meiner Ansicht wieder eine Zunahme der Parameter mit sich. Mal einige Musterzahlen aus Süddeutschland um 1400 (jede Zahl ist natürlich mit Vorsicht zu genießen, da in einem ganz spezifischen Kontext überliefert): Lohn einer Hechlerin: 6d/Tag; Maurermeister: 24 d/Tag; Unterhalt für ein Kleinkind: 5 d/Woche; Preis für 2 Eier: 1d; 1 Weizenbrot: 1 d; Pfund Rindfleisch: 3 d; Pfund Karpfen: 18 d; Höchstpreise für silberbeschlagenen Gürtel 720d (Konstanz), 360d (Ulm), 60d (Nürnberg); Maderpelzmantel eines Konstanzer Patriziers: 25200d; Braunes Oberkleid einer Bürgerin (Pfandsumme): 230d.
Hier wird durchaus deutlich, dass Kleidung einen hohen Preis haben konnte. Aber es scheint doch übermäßig problematisch, eine Aussage zu formulieren wie „eine Hechlerin musste mehr als einen Monat durchgehend arbeiten, um sich ein einfaches Kleid leisten zu können“. Dafür sind die Zahlen in ihrer Zusammensetzung zu heterogen. Zudem stellt sich die Frage nach dem Bedarf: Wenn der Erwerb eines neuen Kleides sagen wir alle zwei Jahre ausreichend erscheint, wäre das ein deutlicher Unterschied zum modernen Textilkaufrausch.
Die Recheneinheit „Zeit“ erscheint mir verlässlicher als „Geld“. Es ist zunächst eine physikalische Größe, die als solche seit dem Mittelalter konstant geblieben ist. Natürlich gibt es auch eine biologische Komponente: Wie lange ist die Lebenszeit eines Menschen bemessen? Und eine kulturelle: Was empfindet man als „lange“. Aber insgesamt scheint die Basis der Berechnung doch deutlich klarer.
Der Hinweis auf den Löffelschnitzer zeigt übrigens genau das Problem, das ich hier diskutieren wollte. Mittlerweile habe ich Antworten von einigen kompetenten Ansprechpartnerinnen erhalten, die allsamt höhere Spinngeschwindigkeiten ansetzen, als das CTR. Im Ergebnis wird es bei einem groben Schätzwert bleiben, der sich aber mit einer Erweiterung der Datengrundlage immer weiter konsolidieren lässt.
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Eintrag #20 vom 29. Mai. 2013 13:17 Uhr
Carola
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Den Ansatz finde ich gut. Trotzdem verstehe ich Jens Bedenken. Ein Frauenkleid des 12. Jahrhunderts ist nun mal was anderes, als eines des späten 14. zumal, wenn es sich bei dem einen um einen Bauernkittel und bei dem andern um höfische Mode handelt (um das Beispiel auf die Spitze zu treiben). Wie soll man das vergleichen?
Anders sieht es bei den einzelnen Arbeitsschritten. Spinnen ist immer mehr oder weniger das Gleiche, auch wenn sich die eine Wolle besser verspinnt, als die andere. Das gleiche gilt für’s Weben, wenn Bindung, Fadenstärke und -dichte etc. übereinstimmen. Beim Nähen müsste man dann die genähte Strecke zugrunde legen (statt des Zusammennähen eines bestimmten Kleidungsstücks).
Für’s Spinnen halte ich die unten gegebene Auskunft für valide. Ich selber spinne recht flüssig und gleichmäßig, aber eher selten. Trotzdem komme ich mit der Handspindel auf ca. 75m/Stunde im Sitzen.
Wie schnell ich nähe, kann ich bei Gelegenheit gerne gucken. Demnächst sind mal wieder ein paar Klamotten fällig. Allerdings hängt dabei auch viel von Stichlänge und Sorgfalt ab. Mit 4-Milimeter-Stichen kommt man nun mal deutlich schneller vorwärts, als mit der halben Länge.
Zum Schluss noch eine kurze Anmerkung: Ich halte die Aussage „die Wolle musste aufwändig zu Garn versponnen werden“ für falsch. Richtig wäre " „die Wolle musste aufwändig zu Garn verarbeitet werden.“ Das Spinnen ist nicht der Punkt. Vorher muss die Wolle noch gewaschen, sortiert und gekämmt werden. Kuriver TextDasKuriver Text ist aufwändig. Spinnen ist, wie unten ebenfalls schon gesagt wurde, eine Arbeit für nebenbei.
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Eintrag #21 vom 29. Mai. 2013 15:21 Uhr
Jens
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Also ich habe jetzt mehrfach hin-und herüberlegt, halte aber alle Angaben, die ich aus unserer Erfahrung zu Spinn-, Näh-, Stick-, Web-, Schneidergeschwindigkeit machen könnte, für wenig hilfreich. Wenn ich die geschätzte Gesamtzeit für die Fertigstellung für ein Kleidungsstück vom Stoff zum Kleid ansetze, wird das Ganze entweder durch die vollkommen unterschiedlichen Schnitte, oder aber durch ständiges Vergleichen mit der Vorlage verfälscht. Beides Dinge, die in einem definierten Zeitrahmen im Mittelalter nicht passierten. Wenn ich es auf Einzelhandwerksschritte wie z.B. "Naht 1m" runterbreche, müsste ich Naht, Stoff, Garn und Nadel spezifizieren, und die Vergleichbarkeit halte ich mir gering. Erfahrungsgemäß ist kann es von traumhaft fix, wie z.B. Seide in feste Wolle über hin zu "mistig-fuddelig" bei Seidensamt bis zu "Hölle" für Wolle in Loden variieren. Ein Experiment mit vorher genau definierten Parametern mag in sich Zahlen liefern, die man guten Gewissens angeben kann, sind aber halt wieder für das "damals" wenig aussagekräftig.
Mal ein paar *Beispiele* für die Varianz:
- geschätze Zeit für das Ausschneiden für das Nähen eines Kinderkleides, 2jähriges Kind, Oberstoff leinwandbindiges Leinen, ca. 300g/m, Fütterung leinwandbindige Wolle, ebenfalls ca. 300g/m: 30min
- dazu im Vergleich gleiches Kleid, Oberstoff diesmal gemustert, erhöhte Zeit durch komplizierteren Schnittplan durch optimales Ausnutzen des Raportes: 1,5h
- Vorbereiten für das Nähen (Zusammenstecken/Heften) jeweils: 30min
- Nähen jeweils Oberstoff und Innenfutter, Vorstich, keine Versäuberung: 3h
- Verbinden Fütterung/Oberstoff: 45min, weil das Futter sich anders dehnt als der Oberstoff
- Zusammennähen: 45min
genutzes Garn: Leinen (Oberstoff), Seide (Fütterung), Verbindungsnaht: Überwendstich, Vorstich
Zuschnitt einfaches Kleid, Frau 1,75m um 1250, Fr, Keile zental vorn/hinten, Seitlich, einfache, rund eingesetzte Ärmel Naht unten keine Verschlüsse, Wolle ca. 450g/m, Köperbindig: 1h
Vorbereitung für das Nähen (Heften): 1h
Vernähen: 10h (Naht: Vorstich, keine Versäuberung wegen Walkung des Stoffes)
Zuschnitt Kleid mit verstärktem Torso, um 1470-80, D., Oberstoff Seidendamast, Fütterung Leinen/Seide, seitlicher Verschluss, keine Ärmel, angesetzer Rockteil
- Anpassen: 6h
- Zuschnitt: 1-2h
- Vorbereiten fürs Nähen: ca. 1h (eingesetzte Falten legen)
Nähen (geschätzt): 6-8h (weniger Nähte weil keine Keile und Rock2teilig, dafür sind eingenähte Falten schwerer einzunähen
Endbearbeitung, Verschlusslöcher sticken: nochmal ca. 1h
Varianzparameter, Auswahl:
- Stoffmaterial (fusselt? Nicht?)
- Stoffwebart (Dehnt sich beim Zuschneiden?)
- Stoffbindung (Dehnung?)
- Stoffwebdichte (Wie schwer zu nähen?)
- Stoffgewicht (wie leicht zuzuschneiden)?
- Generelle Form des Kleidungsstückes
- Anzahl der Teile (und damit auch Nähte)?
- Gefüttert ja/nein
- Futterstoff arg unterschiedlich zum Oberstoff?
- komplexe Anpassung nötig? (Körperformung, Taillierung, Weit, gelegte Falten…)
- Art und Material des Nähfadens
- Art der Nähte
- Belastung der Nähte
Mir ist schleierhaft, wie man da nur irgendeine Art von sinnvoller Aussage draus ableiten will. Selbst wenn ich ein Kleid experimentell rekonstruieren täte, sagt das nur was drüber aus, wie lange ich gebraucht hätte. Nun -rekonstruiere- ich aber ein Kleid. Und nähe nicht aus dem täglichen Bedarf eines. Das ist etwas vollkommen anderes. Wo der eine guckt, ob es am Ende wie bei der Vorlage aussieht, schaut der andere damals, ob es dem Kunden/Damilienmitglied/einem selber passt und gefällt.
Kurzum: ich halte Aussagen über die Herstellungszeiten damals für absolut unmöglich. Aussagen darüber, wie lange man für dies und das -heute- braucht, okay. Aber das hat dann am Ende auch nicht mehr Effekt als beim Kunden ein "waaaas, soooo lange?" auszulösen.
Beim Spinnen schließe ich mich Carola an. Spinnen geschah nebenbei, selbst Prostituierte in Städten des späten Mittelalters mussten versponnene Wolle abliefern (was lustige Bilder weckt..)
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Eintrag #22 vom 29. Mai. 2013 17:57 Uhr
Jan Keupp
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“waaaas, soooo lange?” ist ein guter Anfang
Lieber Carola,
Du hast natürlich Recht. Die Aussage, „die Wolle musste aufwändig zu Garn versponnen werden“ macht nur dann Sinn, wenn vorher die Schritte zur Aufbereitung des Rohmaterials erwähnt werden. Ich hatte hier meinen Textentwurf im Kopf, ohne das im Forum explizit zu machen. Vielen Dank auch, dass Du mich an Deinen Spinnerfahrungen teilhaben lässt. Was Du so „nebenbei“ an Multitasking getan hast, darüber will ich nicht weiter spekulieren.
Lieber Jens,
herzlichen Dank für die phantastische Fülle an Angaben. Du nähst unheimlich schnell und ich schließe darauf auf einen hohen Grad an Routine und Professionalität. Ein experimenteller Nachvollzug müsste genau auf diese Eigenschaften setzen, denn ein Anfänger (das sind die Damen vom CTR übrigens keineswegs) liefert natürlich kein belastbares Ergebnis. Das war genau der Grund, warum ich um Meinungen hier aus dem Forum gebeten habe.
Den Verweis auf die notwendige Differenzierungsleistung nehme ich gerne auf. Natürlich ist es nicht möglich, die Ergebnisse zu einem normierten Standardwert für „das Mittelalter“ zu verrechnen. Ich habe das auch gar nicht vor. Mir geht es schlicht darum, dem Leser durch ein konkretes Exempel einen ersten Anhaltspunkt zu geben. Wie bitter notwendig das sein kann, habe ich heute in einem Seminar einmal in Bezug unsere Fragestellung getestet. Wir hatten eine grundherrliche Quelle um die Jahrtausendwende vorliegen, in der das „Bestkleid“ als Mortuarium erwähnt wurde. Die Frage, wie viel Arbeitszeit wohl in solch ein Gewandstück vom Rohmaterial bis zur Fertigstellung geflossen sei, wurde spontan mit 6 Stunden beantwortet. Die Teilnehmer/innen steigerten den Schätzwert dann über 12, 30, 100 auf 150 Stunden. Ich fürchte, Du und alle anderen im Forum stecken mit langjähriger Sachkenntnis zu tief in der Materie, um sich einen solchen Grad von Fehleinschätzung vorstellen zu können. Es ist aber Teil gerade auch wissenschaftlicher Basisarbeit, durch den Einsatz von Beispielen erste Erkenntnisschneisen zu schlagen. Mit einem “waaaas, soooo lange?” fängt es an und mit etwas Glück endet es in Respekt, Neugierde und echtem Interesse.
Ich stimme zu, dass die Aussage mit einem klaren Referenzpunkt versehen werden muss. Die Experimente des CTR würden einen solchen bieten. Dann hätte man zunächst gemäß Jens eine Information „wie lange man für dies und das -heute- braucht“. In einem nächsten Satz ließe sich darauf verweisen, dass eine erfahrene Textilhandwerkerin aus Haithabu/Hedeby im 10. Jh. (hierauf bezog sich ja das Experiment) vermutlich sehr viel schneller zum Ziel kommt. Damit wäre konkretes Beispiel und Quellenkritik realisiert und insofern fester Boden erreicht. Wie gesagt kann im weiteren Textverlauf auf die weitere Entwicklung innerhalb der Epoche eingegangen werden: Technologisch Innovationen (z.B. Trittwebstuhl), Erfolge in der Schafzucht, Differenzierung und Spezialisierung des städtischen Handwerks etc. Damit würde der Eindruck einer Statik der Epoche vermieden. Dass der Leser dennoch einen falschen Eindruck gewinnt, davor ist kein Text gefeit.
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Eintrag #23 vom 29. Mai. 2013 18:29 Uhr
Jens
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Hallo Jan,
Nee, das Turbonähen ist Myriams Job, ich bin fürs Schneidern zuständig, will mich net mit fremden Federn schmücken ;)
Aber der Punkt ist genau der: trotz der Tatsache, dass wir nun schon wirklich ne große Latte an Klamotten gemacht haben, gibt es immer wieder Fälle, wo etwas länger dauert. Eben weil wir keine Schneider des Mittelalters sind, sondern Kleidung -nach-bauen.
Ich habe auch schon an simplen Ärmeln verzweifelt. Oder habe etwas lieber doppelt genäht, weil es arg belastet wurde.
Wirkliche Messwerte würde ich nur da sehen, wo man 10mal das gleiche Kleidungsstück macht, wo man wirklich weiß, wo man hinlangen muss, und wo man schon weiß, ob man auf dem Weg das bekommt, was man will.
Deine Ideen mit dem Referenzpunkt, also praktisch als "schlechtestmöglichen Wert", gerade im Zusammenhang mit der Veränderung im Fertigungsprozess, finde ich allerdings einen guten Weg. Dadurch würde man Aussagen über das "damals" vermeiden, aber dem Leser eine Vorstellung an die Hand heben.
Ideal fände ich aber weiterhin, dem Ganzen ein paar Zahlen aus zeitgenössischen Quellen gegenüberzustellen, damit wiederrum ein Gefühl für die damalige Wertigkeit, den Umgang mit Textilien, und die Häufigkeit und Schnelligkeit von Anfertigungen entsteht.
Zum. für das 14te kann ich hier übrigens insbesondere die königlichen Garderobenlisten Englands empfehlen, dort werden öfters sowohl Zeitpunkt der Bestellung, als auch spätestmöglicher Lieferzeitpunkt genannt, was auch mal grobe Rückschlüsse auf Lieferzeiten auch für komplexere Kleidung liefert.
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Eintrag #24 vom 29. Mai. 2013 23:08 Uhr
Jan Keupp
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Es ist schön, wenn man sich nach kritisch-sachbezogener Diskussion einen gemeinsamen Weg bahnt. Das hat mir wirklich Spaß gemacht.
Ich muss zustimmen, dass es ein wesentlicher Unterschied ist, ob man ein Kleidungsstück als solches rekonstruiert oder versucht, die Zeitabläufe der Fertigung experimentell nachzuvollziehen. Hier war ich in meiner Anfrage vielleicht zu naiv. Aber das ist ja der Vorteil einer Forendiskussion, man kann immer etwas dabei lernen.
Der Zugriff auf die Aufzeichnungen der great wardrobe ist ein wirklich guter Gedanke. Es gibt vergleichbare Rechnungslegung für das 15. Jh. auch in fürstlichen Territorien des Reiches. Aussagen über die aufgewendete Gesamtarbeitszeit lassen sich hier kaum entnehmen, die Fertigung erfolgt ja nicht am Stück und oft unter Rückgriff auf fertige Tuchwaren. Immerhin stößt man vielleicht auf Fälle von extrem kurzer Näharbeit, die zeigen, was machbar war. Und auch die Preisrelationen von der Livree des Türstehers bis zum Ornat des regierenden Fürsten lassen sich beobachten. Allerdings ist hier z.T. noch echte Pionierarbeit zu leisten.
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Eintrag #25 vom 31. Mai. 2013 11:58 Uhr
Jens
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Rechnungen aus dem 15ten aus dem Reichsgebiet
Für Hinweise ob Textquellen zu herschaftlicher Garderobe, insbesondere im späten 15ten in D., wäre ich übrigens sehr interessiert, wenn Du da Tipps hättest, wäre ich dankbar :)
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Eintrag #26 vom 31. Mai. 2013 17:08 Uhr
Jan Keupp
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Lieber Jens,
ich kann zumindest ein paar Literaturhinweise geben, die vielleicht hilfreich sind:
Stephan Selzer, Blau: Ökonomie einer Farbe im spätmittelalterlichen Reich (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 57), Stuttgart 2010. [hier auf S. 100-104 eine ausführliche Übersicht über verwertbare Überlieferungsbestände).
Karl-Heinz Ahrens, Residenz und Herrschaft. Studien zu Herrschaftsorganisation, Herrschaftspraxis und Residenzbildung der Markgrafen von Brandenburg im späten Mittelalter (Europäische Hochschulschriften III, 427), Frankfurt a.M. 1990 (bes. S. 186ff.).
Brigitte Streich, Zwischen Reiseherrschaft und Residenzbildung. Der wettinische Hof im späten Mittelalter (Mitteldeutsche Forschungen 101), Köln/Wien 1989, (bes. S. 356–364 und 515ff.)
Stephan Selzer, Fürstliche Ansprüche an der Peripherie des höfischen Europas. Die Hofhaltung des Hochmeisters Friedrich von Sachsen in Preußen (1498-1507), in: Hofwirtschaft. Ein ökonomischer Blick auf Hof und Residenz in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. 10. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, hrsg. von Gerhard Fouquet/Jan Hirschbiegel/Werner Paravicini (Residenzenforschug 21), Ostfildern 2008, S. 55-76.
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Eintrag #27 vom 31. Mai. 2013 18:01 Uhr
Jens
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Off-Topic, aber vielen Dank, Jan!
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