Eintrag #1 vom 02. Jun. 2004 13:03 Uhr
Angelina Von Borcke
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Hallo,
eine Freundin, der ich Bilder von einem Museumsbesuch mitgebracht hatte, u.a. von einer Vitrine voller Spinnwirtel, fragte mich, ob man eigentlich sicher sei, daß es Wirtel sind.
Ich gehe davon aus, weil sie neben Webschwerter vor allem in Frauengräbern gefunden wurden, sind es ebenfalls Geräte zur Wollverarbeitung, also Spinnwirtel.
Meine Freundin stellte die interessante Frage - ich geb sie an Euch weiter - wurden auch komplette Spindeln INKLUSIVE Spindelstab gefunden, also nicht nur vermeintliche Wirtel?
Weiß jemand genaueres darüber?
Grund der Frage: Meine Freundin kennt in ihrem Bekanntenkreis nur sehr sehr wenige, die Spindeln mit Tonwirteln benutzen, der Großteil arbeitet mit kompletten Holzspindeln. Ist es realistisch, daß es sowas gab? Wenn hölzerne Spindelstäbe zerfallen sind, könnten auch komplette Holzspindeln vergangen sein. Oder?
Also - weiß jemand - vielleicht sogar mit Bildmaterial - von Funden von Handspindeln mit Tonwirteln, bei denen der Holzstab erhalten geblieben ist?
Grüßlis. Angy.
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Eintrag #2 vom 02. Jun. 2004 13:47 Uhr
Claudia
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In der Ausstellung "Menschen, Zeiten, Raeume" war eine komplette erhaltene Spindel aus Luebeck. Das war glaube ich aus dem 14. oder 15.Jh.
Ich erinnere mich dunkel, auch mal was gelesen zu haben ueber eine komplette neolithische oder bronzezeitliche Spindel aus einer der Pfahlbausiedlungen in Sueddeutschland. Aber da produziert mein Hirn momentan keinen Link zu einem Buch, sorry.
Von den Nachweisen abgesehen, war es in vorgeschichtlicher Zeit sicherlich einfacher, die Wirtel aus Ton herzustellen als aus Holz. Man muss ja Wirtel mit einem gewissen Gewicht produzieren, d.h. man muesste Hartholz bearbeiten und eine relativ gleichmaessige Scheibe herstellen. Das geht mit Ton viel fixer und man kann sie ohne viel Aufwand brennen.
Heutzutage gehen die Holzdinger natuerlich viel schneller.
Es gab uebrigens Wirtel aus vielerlei Materialien: Ton, Stein (z.B. Sandstein, Speckstein), Glas, wobei die Tonwirtel bei weitem ueberwiegen.
Ob es Holzwirtel gab, kann ich nicht sagen. Die mittelalterlichen Bilder von Spinnerinnen, die ich bisher gesehen habe, zeigen jedenfalls nie so grosse Schwungscheiben, wie sie bei Holzwirteln auftreten.
Gruss, Claudia
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Eintrag #3 vom 02. Jun. 2004 13:56 Uhr
Silvia
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Tach!
Ich denke, dass man das berücksichtigen muss, wenn man den Spinnwirtel auswählt.
Will man einen ganz feinen Faden haben, dann nimmt man einen sehr leichten Wirtel, evtl. einen aus Holz (wobei ich im Moment krampfhaft überlege, wo ich schon mal einen Beleg gesehen hab)
will man einen etwas dickeren Faden haben, nimmt man Ton.
Man sollte übrigens nicht den Fehler machen, Webgewichte, mit Spinnwirtel zu verwechseln, das habe ich in der Ausstellung Europas Mitte um 1000 erlebt und beinahe einen Schreikrampf bekommen…
Die meisten Belege gibt es halt über Tonwirtel, auch von Glas kenne ich aus der Eisenzeit einige Funde… und für den Rest muss man eben suchen.
Tschüs
Aisling
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Eintrag #4 vom 02. Jun. 2004 15:34 Uhr
Roman Grabolle
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Ja, es gibt Funde von erhaltenen Spindeln.
Jetzt rein aus dem Gedächtnis z.B. aus Brandenburg/Havel 10./11. Jh. (?), entweder in Europas Mitte um 1000 oder Otto der Große.
Spätmittelalterliche Spindeln sind einige mehr bekannt, insbesondere aus Trockenfunden von Zwischenböden oder ähnlichem. So z.B. aus dem Kemptener Mühlbergensemble, bearbeitet von Nelo Lohwasser in ihrer Magisterarbeit über die Holzfunde
oder aus Schloß Rochlitz in Sachsen, noch unpubliziert [Mal sehen, ob ich irgendwann noch dazu kommen werde ;-)].
Sie sind hervorragend erhalten und z.T. mit ein oder zwei dünnen roten Streifen verziert.
Spinnwirtel liegen in erster Linie aus Keramik vor. Es gibt sie aber auch aus Glas, Speckstein und anderen Materialien. Wie schon gesagt ist das Gewicht entscheidend.
Viele Grüße Roman
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Eintrag #5 vom 02. Jun. 2004 15:47 Uhr
Roman Grabolle
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Vor einiger Zeit hatte ich schon mal ein wenig Literatur zusammengetragen und Anfragen gestartet für einen Kollegen aus Prag. Vielleicht ist ja was in den alten Mails noch was interessantes dabei:
Wie fast immer in letzter Zeit ist der Grund der
Anfrage eine geplante Arbeit eines meiner
Kommilitonen, Frantisek Flek. Diesmal soll es eine
Bakkalaureatsarbeit ueber die Spinnwirtel aus Stara Boleslav werden (ca. 150 Stueck). Zugegeben - auf den ersten Blick nicht gerade ein attraktives Thema ;-))
Ausserdem hab ich in "meiner Burg" in Rochlitz auch eine grosse Zigarrenkiste voll mit Spinnwirteln (alles Lesefunde) und koennte mir gut vorstellen, damit was zu machen, falls es denn was bringen sollte.
Wie gesagt, im Zentrum des Interesses lagen
(mittelalterliche) Spinnwirtel bisher nur sehr selten.
Selbst bei grossen (monographischen) Fundvorlagen
verschiedenster Grabung geht es ueber die Erwaehnung und vielleicht noch Formbeschreibung selten hinaus.
Neue Ansaetze sind uns dazu nur aus Mikulcice bekannt:
Otto Marek / Marie Kostelnikova, Die Spinnwirtel aus Mikulcice. In: Lumir Polacek (Hrsg.), Studien zum Burgwall von Mikulcice 3 (Brno 1998) 171-326.
ISBN 80-86023-01-X
Hier wurde eine wahrhaftig "riesige Kollektion von 2242 Stueck" (ebd. 171) aufgrund eines von M. Kostelnikova erarbeiteten Kodesystems statistisch ausgewertet und gleichzeitig die Benutzbarkeit dieses Systems überprüft. Das Ergebniss der Untersuchungen stimmt nicht gerade sehr hoffnungsvoll: "Die Vorstellung, dass die Analyse der Zusammenhaenge zwischen einzelnen Eigenschaften und Massen zur Erfassung irgendwelcher objektiver Gesetzmaessigkeiten
fuehren wuerde und damit auch zur exakten Definition genetisch zusammenhaengender Typen, ging nicht in dem erwarteten Masse in Erfuellung" (ebd. 171 f.).
Analysiert wurden Erhaltungsgrad, Form, Material,
Verzierung, Gewicht sowie verschiedene weiter Masse (H, Dm. Muendungsdm … ). Ausserdem wurde die Gesamtverbreitung, die Verbreitung einzelner Formen und das Vorkommen in den Graebern bearbeitet. Schlussendlich wird auch noch auf Halbprodukte und Spinnwirtelherstellung eingegangen.
Fuer eine fruehere Frage ist wahrscheinlich die "ueberraschend problematische Materialbestimmung" ohne Duennschliffe, d.h. nur per Augenschein, von Bedeutung. Dies betrifft erster Linie die Unterscheidung von Spinnwirteln aus fein geschwemmten, gebrannten Ton und solchen aus weichen Sedimentgesteinen (Tonschiefer, Schieferton usw.), die offenbar fast 90 Prozent ausmachen (dazu 185-188, 206). Da man keine destruktiven Methoden (Duennschliff) anwenden wollte, um das Material zu bestimmen, versuchte man es mit der Feststellung des spezifischen Gewichtes und der Wasseraufnahmefaehigkeit; dazu Exkurs S. 287-290. Beide Methoden hatten jedoch nur sehr geringen Erfolg.
Aber zurueck zur Analyse von Spinnwirteln. Eine
offenbar aehnlich breitangelegte Untersuchung ist fuer die Spinnwirtel aus dem polnischen Burgwallkomplex Stradow vorgesehen - vielleicht auch inzwischen schon publiziert? - (Band II, Kapitel 3):
Helena Zoll-Adamikova, Archaeologische Quellen aus dem Burgwallkomplex Stradow - Methoden und Perspektiven von Bearbeitung und Auswertung. In: Cenek Stana / Lumir Polacek (Hrsg.), Fruehmittelalterliche Machtzentren in Mitteleuropa. Mehrjaehrige Grabungen
und ihre Auswertung. Internationale Tagungen in
Mikulcice 3, Spisy arch. ustavu AV CR Brno 6 (Brno
1996) 69-83, hier 76.
ISBN 80-901679-9-3
Eine Behandlung spaetmittelalterlicher und
neuzeitlicher Spinnwirtel laesst sich auch in dem hier schon mehrfach erwaehnten Buch von
Bernd Thier, Die spaetmittelalterliche und
neuzeitliche Keramik des Elbe-Weser-Muendungsgebietes: ein Beitrag zur Kulturgeschichte der Keramik. Probleme
der Kuestenforschung im suedlichen Nordseegebiet 20 (Oldenburg 1994) ISBN 3-89442-177-0.
auf den S. 292-294 finden, wobei hier besonders auf die Materialien (62 Stueck, davon 53 aus Steinzeug, 8 aus Irdenware, 1 Stueck aus Dachziegel herausgearbeitet) und die "Gewichtsklassen" eingegangen wird. Unterschiede im Gewicht (3 Gruppen) bedingen dabei offenbar verschiedene Garne. Hier auch
die Hinweise auf einige Vergleichsserien aus
Alt-Luebeck bzw. dem Kloster tom Roden und eine
Untersuchung in Oesterreich, wobei mir aus schon
genannten Gruenden die Mikrofiche-Anmerkungen fehlen ;-
1) ) und ur- und fruehgeschichtliche Arbeiten (diese v.a. aus methodischen Gruenden) werden gerne genommen. Dabei sollten die Angaben aber ueber das reine "ach ja, und ein paar Spinnwirtel haben wir auch" hinausgehen. Als solche wuerde ich z.B. die Bemerkungen von
Johanna Banck-Burgess, An Webstuhl und Webrahmen.
Alamannisches Textilhandwerk. In: Die Alamannen
(Stuttgart 1997) 371-378 ansehen, wenn sie schreibt:
"Wirtel gehoeren dagegen in Frauengraebern der
Merowingerzeit zu den ueblichen Beigaben. Sie zeigen in Form und Material eine grosse Variationsbreite".
Aehnlich nur die reine Formenbeschreibung und darueber hinaus nix bei den meisten Arbeiten zu slawischen Fundorten, beispielsweise Schuldt, Behren-Luebchin 105 f.
Es bleibt die Frage, warum dies der Fall ist und ob diese Beobachtung weitere Aussagen ermoeglicht? Fuer die beliebten chronologische Aussagen werden sie sich wohl weiterhin kaum verwenden lassen. Dafuer duerften sie aber Fragen von Haus- bzw. Handwerk, d.h. sowohl der Herstellung der Spinnwirtel als auch der Garne,
beantworten und v.a. Einblick in Importbeziehungen
geben, da zumindest Spinnwirtel aus ortsfremden
Material (verschiedene Steinarten, im MA/FNZ Steinzeug usw.) eingefuehrt sein muessen. Fuer weitere Ideen sind wir immer zu haben… .
Viele Grüße Roman
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Eintrag #6 vom 03. Jun. 2004 19:24 Uhr
Roman Grabolle
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Noch mal kurz zu den hölzernen Handspindeln:
Ein sehr schönes Exemplar mit aufgestecktem Wirtel und erhaltenem Faden aus dem letzten Viertel des 10. Jh. aus Brandenburg:
Puhle, Matthias (Hrsg.), Otto der Große. Magdeburg und Europa (Mainz 2001).
Katalog S. 83 Kat.-Nr. II.49.
Nicht ganz so gut erhalten: Spinnwirtel mit Spindel, Berlin-Spandau, 10. Jh.
Wieczorek, Alfried / Hans-Martin Hinz (Hrsg.), Europas Mitte um 1000 (Stuttgart 2000).
86 Kat.-Nr. 03.06.10.
Hochmittelalter, Lübeck:
Alfred Falk, Hausgeräte aus Holz. In: Aus dem Alltag der mittelalterlichen Stadt. Handbuch zur Sonderausstellung vom 5. Dezember 1982 bis 24. April 1983 im Bremer Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte (Focke-Museum). Hefte des Focke Museums 62 (Bremen 1982) 55-63, hierzu 57 Abb. 1,7-8.
Und noch ein paar spätmittelalterliche:
Wurster, Herbert W. / Richard Loibl, Ritterburg und Fürstenschloß. Begleitband zur Ausstellung von Stadt und Diözese Passau im Oberhausmuseum Passau 1998. Teil 1: Geschichte (Regensburg 1998) 69:
"Die Bewohner der Burg: Frauen und Kinder." Kat.-Nr. 5/34: Objektgruppe (Grabungsfunde): Frauen auf der Burg. 1. Spindeln und Spinnwirtel zur Fadenherstellung 15. Jh.
Mehr dazu Teil 2. Archäologische Funde: Kat.-Nr. A 129, 130, 188 [liegt mir gerade nicht vor].
Mit Sicherheit gibt es noch mehrere Belege, wenn man mal intensiver danach schauen würde, insbesondere in den Arbeiten zu Holzfunden und zur Textilherstellung allgemein.
In seltenen Fällen - insbesondere bei steinernen und hölzernen Funden - ist es nicht sicher, ob es sich um Spinnwirtel oder um Netzsenker bzw. Netzschwimmer handelt. Letztere sind zumeist etwas gröber ausgearbeitet. ßhnlich ist es nicht immer klar, ob es sich bei den großen Brocken um Webgewichte oder Netzsenker für den Fischfang handelt. Hierzu nun eine ausführlichere Beschäftigung in:
Pola^cek, Lumir (Hrsg.), Studien zum Burgwall von Mikul^cice V (Brno 2003).
Viele Grüße Roman
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